Es ist mir nicht leicht gefallen, dieses Kapitel zu schreiben. Hier betreten wir nämlich einen der düstersten Sümpfe im Grenzland der Borderlinestörungen. Alles bäumt sich in uns auf gegen die Tatsache, daß auch heute Kinder unmenschlich gequält und mißbraucht werden in einem Dunstkreis von Perversion und Machtstreben, von Gewinnsucht und Okkultismus. Kinderpornographie, Kinderprostitution, Geheimzirkel und Satanskulte das gibt es wirklich, auch in unserer Zeit. Nur die wenigsten Fälle werden aktenkundig.
Erst viele Jahre später wagen einige der Opfer, über ihre furchtbaren Erlebnisse zu berichten. Es sind keine geordneten Erzählungen, die man da zu hören bekommt, vielmehr Bruchstücke der Erinnerung an ein unvorstellbares Grauen, verteilt in die zersplitterte Identität des Opfers, die sich erst allmählich wieder zusammenfügt. Die Berichte ehemaliger Opfer erfordern starke Nerven. Sie sind z. T. so grausam und pervers, daß es beim Zuhören fast körperlich weh tut oder Übelkeit erzeugt, auch wenn man äußerlich gelassen bleiben sollte. Manchmal kann man fast nicht glauben, daß Erwachsene Kindern so etwas antun können, und man versteht, daß eine kindliche Seele unter solchem Druck auseinander brechen kann. Fesselungen, grausame Bestrafungen, Sex mit Tieren, Mehrfach-Vergewaltigungen in Hinterzimmern von Sexclubs hinterlassen tiefe Spuren.
Es geht nicht darum, Gruselgeschichten für therapeutische Seelsorger zu erzählen. Vielleicht bin ich sogar allzu zurückhaltend mit detaillierten Geschichten. Doch dieses Buch soll in erster Linie eine Hilfe sein, Menschen mit einer Vorgeschichte von seelischer Traumatisierung besser zu verstehen und zu begleiten. Wenn die Betroffenen sich schon öffnen, so gilt es, ihnen möglichst gelassen zuzuhören, sachlich zu klären und sorgsam darauf zu achten, nicht mehr aufzudecken, als die Patientin selbst freigibt. Sensationslust, Entrüstung und übermäßiges emotionales Engagement können diesem Ziel eher hinderlich sein. |
Wie kann ein kleines Mädchen so etwas überleben? Wie wird die zerbrechliche Psyche eines derart extrem mißhandelten, eingeschüchterten und zu Tode geängstigten Kindes mit solchen Erfahrungen fertig? Hier liegt der Kernpunkt der Entstehung neuer "Personen": Immer wieder erlebte sie, daß es zu einer eigenartigen Veränderung ihres Bewußtseins kam: Es war als würde ich aus meinem Körper herausgehen. Der Schmerz und die Kälte klangen ab, der Geruch von Blut und Weihrauch verzog sich, das Bellen der Hunde und die Beschwörungen des schwarzen Mannes verhallten und ich wurde von warmem Dunkel eingehüllt. Es war mir, als würde jemand anders die Dinge tun, die ich tat; als würde der Körper eines andern Mädchens gequält. Ich kam erst wieder zur vollen Besinnung, als ich schon auf dem Rücksitz des Autos kauerte, das mich nach Hause brachte. Aber diese andere Person blieb irgendwie. Es war, als sei in mir ein Kind gestorben, das sich in einen Tunnel tief in meinem Inneren geflüchtet hat und sich dort bis heute versteckt.
Solche Geschichten kann man letztlich nicht mehr wissenschaftlich oder theologisch analysieren ( ). Man nimmt einfach Anteil am existentiellen Erleben eines Menschen, der Furchtbares überlebt hat. Man kann es nicht ungeschehen machen und man kann irgendwie auch nicht trösten. Man kann nur da sein, bereit zum Zuhören.
Wenn ein Kind aus einer normalen Familie etwas Furchtbares erlebt (z.B., daß ein Lastwagen einen Freund aus dem Kindergarten vor seinen Augen totfährt), so wird es wenigstens getröstet, gehalten und gestützt. Das verhindert ein Auseinanderbrechen der Persönlichkeit. Aber Kinder, die so massiv mißbraucht werden, haben niemand, der sie tröstet. Vielleicht werden sie sogar noch angeschimpft, weil sie weinen, oder brutal bestraft, weil sie sich widerspenstig benehmen. Es verwundert nicht, daß sie sich innerlich nach jemand sehnen, der sie beschützt, nach jemand, der nach außen stark ist, der die Kraft hat, sich zu wehren. Praktisch bei allen Multiplen entstehen dann in der Phantasie sogenannte Beschützer-Personen, wie etwa Nelle im obigen Beispiel.
Aber es gibt auch innere Ankläger, die jenen Selbstzweifeln und Schuldgefühlen eine Stimme geben, von denen praktisch alle Opfer von sexueller Gewalt geplagt werden. Wie oft hören sie von ihren Peinigern: Du willst es doch selbst! Du hast doch auch schöne Gefühle dabei! Du bist es doch, die mich verführt, du kleine Hure! Und im Erwachsenenleben findet sich dann eben auch eine solche dunkle Person, die von einer Patientin sogar als Dämon bezeichnet wurde.
So entsteht also im Inneren einer multiplen Persönlichkeit ein ganzes Welttheater im Kleinen, in dem die drei Hauptgruppen, nämlich Opfer (gestorbene oder schreiende Kinder), Beschützerinnen und Beschützer, sowie Verfolger (böse Männer oder auch Frauen) in einem komplexen Zusammenspiel das Leben zu bewältigen suchen. Die Personen erhalten Namen und gewinnen durch die vielfältigen Erfahrungen zusätzlich an Profil. Jael ist stark und mutig, erzählt eine Patientin von ihrer Beschützer-Person. Als uns unser Arbeitgeber den letzten Lohn nicht mehr zahlen wollte, haben wir sie vorgeschickt. Sie hat ihm mit einer Anzeige gedroht, da hat er plötzlich eingelenkt! Immer wieder wird betont, wie wichtig die anderen Personen sind. Wir brauchen einander, um einander zu trösten und zu helfen. Oft werden rege Diskussionen unter den Personen geschildert. Während Außenstehende nur die Gastpersönlichkeit mit ihrer verwirrenden Instabilität wahrnehmen, zieht da in der inneren Wirklichkeit der Multiplen eine ganze Gruppe von Gestalten durch die Wirrnisse und Fährnisse des Lebens, manchmal wie ein verhärmter und verängstigter Flüchtlingstrek, manchmal auch wie eine Familie von Fahrenden, die miteinander durch die Lande ziehen und sich abends am Lagerfeuer zu Gesprächen treffen.
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