Auf dem Gebiet der Psychotherapie findet eine zunehmende Spiritualisierung statt (Gesellschaft: Psychoszene; Wissenschaft: Transpersonale Psychologie).
In den letzten Jahrzehnten wurde die evangelische Seelsorgelehre durch eine weitreichende Therapeutisierung geprägt. Gegenwärtig werden jedoch Ansätze eines bibelorientierten Seelsorge-Verständnisses sichtbar, das sich systematisch-theologisch ausweist und auf eine spirituelle Grundhaltung abzielt.
Was sind die Gemeinsamkeiten von Seelsorge und Psychotherapie, wodurch unterscheiden sie sich? Welche Impulse und Folgerungen für die Seelsorge ergeben sich vor dem Hintergrund eines wachsenden Psychomarkts? Welche Seelsorge-Ansätze betonen die therapeutischen Aspekte der christlichen Spiritualität, und wodurch unterscheiden sie sich von den zahlreichen Entwürfen spiritueller Psychotherapien?
Durch massive gesellschaftliche Veränderungen (Stichworte Säkularisierung, Pluralisierung, Individualisierung, Globalisierung) ist ein großer Bedarf nach weltanschaulicher Orientierung entstanden, der zunehmend auch in psychologischen Beratungen und Therapien thematisiert wird.
Als eine Folge davon ist ein unüberschaubarer Markt von Lebenshilfe- und Selbstverwirklichungs-Angeboten entstanden, der sich als ‚Psychoszene’ seit drei über Jahrzehnten ausbreitet.
Als wissenschaftliches Pendant des alternativen Psychomarkts verfolgt die Forschungsrichtung der Transpersonalen Psychologie das Ziel, religiös-spirituelle Erfahrungen und veränderte Bewusstseinszustände in die Forschung und die therapeutische Praxis mit einzubeziehen.
Durch eine ausufernde "Therapeutisierung der Lebenswelt" übernehmen psychologische Deutungen religiöse Funktionen wie die der Selbstvergewisserung, Sinnstiftung und Lebensorientierung.
Viele Angebote des alternativen Therapiemarktes verwenden Techniken zur Bewußtseinserweiterung, gehen von weltanschaulichen Glaubensüberzeugungen aus und beantworten existentielle Lebensfragen.
Analog zur alternativen Therapieszene, die sich von der "Profession zur Konfession" bewegte, verlief die Entwicklung in der Seelsorgelehre von einer biblisch-verkündigenden hin zu einer beratend-therapeutischen Seelsorge.
Schwerpunkte der neueren evangelischen Seelsorgelehre:
- 1920 - ca. 1970: Kerygmatische Seelsorge (Leitbild: Verkündigung des Wortes Gottes)
- 1970 - ca. 1990: Seelsorgebewegung (Leitbild: Psychotherapeutische Beratung)
- ab ca. 1990: Selbstkritik und Neuorientierung
Der Grundkonflikt zwischen einem verkündigenden und einem beratenden Paradigma, der die Seelsorgelehre in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts prägte, hat an Schärfe verloren, ist jedoch noch nicht zufriedenstellend gelöst.
Bei der gleichen konkreten Absicht von Lebenshilfe dürfen die unterschiedlichen Menschenbilder von Psychotherapie und Seelsorge nicht verwischt werden. Erst ihre Reflexion und Transparenz ermöglicht eine Zusammenarbeit.
Die Wiederentdeckung klassischer Seelsorgetraditionen wie z.B. die Beichte in Luthers Seelsorgelehre und –praxis führt zu einer Stärkung des theologischen Profils seelsorgerlichen Handelns. Solches Vorgehen entspricht neueren psychotherapeutischen Erkenntnissen, die der Vergebung einen hohen Stellenwert im Heilungsprozeß bei emotionalen Störungen beimessen.
Die Aufgabe der Psychotherapie besteht in der Behandlung neurotischer Konflikte und psychischer Erkrankungen. Gegebenenfalls kann sie mithelfen, den subjektiven Sinn einer spezifischen Lebenssituation herauszufinden. Zur Beantwortung existentieller Fragen des Menschseins wie Zufall, Schuld, Leid, Ungerechtigkeit, Wahrheit, Tod, Glück, Sinn des Lebens ist sie fachlich nicht in der Lage.
Die Aufgabe der Seelsorge besteht in der Freisetzung christlichen Verhaltens zur Lebensbewältigung. Im seelsorgerlichen Gespräch steht der von Gott geliebte und entfremdete Mensch mit seinen Konflikten im Mittelpunkt. Seelsorge geschieht in der Hoffnung, dass Gott dorthin kommt, wo Menschen sich auf den Weg zur Wahrheit machen.
Seelsorge-Gespräche sind in mancherlei Hinsicht mit Therapiegesprächen vergleichbar. Dennoch stellen sie keine psychotherapeutische Methode dar, weil im Vergleich von Psychotherapie und Seelsorge grundsätzliche Unterschiede hinsichtlich der zugrunde liegenden Menschenbilder, Ziele und Methoden zu beachten sind.
Voraussetzungen für eine Kooperation und eine gegenseitig kritische Funktion: Offenheit des psychotherapeutischen Menschenbildes gegenüber der religiösen Dimension, Berücksichtigung der psychologischen Bedingungen beim seelsorgerlichen Vorgehen.
Psychotherapie und Seelsorge verfolgen auf verschiedenen Wegen das Ziel, Mensch sein zu können. Die Psychotherapie bringt vor allem die Bedeutung der Gefühle, der Erinnerung, der Vorstellungskraft und der Beziehungsqualität ein, die Seelsorge das Wissen und die Erfahrung um die Wirklichkeit und Wirksamkeit des dreieinigen Gottes. Für die Seelsorge kann sich bei einer Kooperation ihr therapeutisches Potential neu und vertieft erschließen, für die Psychotherapie der Umgang mit religiösen Fragen verbessern.
In einer säkularisierten Umwelt ist der/die christliche SeelsorgerIn sowohl auf psychologisches Grundwissen und Gesprächstechniken als auch auf die biografische Vertiefung und eine persönliche Glaubenspraxis angewiesen. Seelsorgerliche Kompetenz resultiert auch aus der persönlichen Aneignung eines Glaubensstils. Aus evangelischer Perspektive zählen besonders der Umgang mit Bibel, Gebet und Gemeinschaft dazu.
Den wachsenden Bedarf nach weltanschaulicher Orientierung und spiritueller Lebenshilfe kann am besten von einer Seelsorge gedeckt werden, deren Tätige selber eine persönliche Glaubenspraxis pflegen.
Die therapeutische Dimension seelsorgerlicher und liturgischer Rituale wird neu entdeckt und vermehrt angewendet (z.B. Segenshandlungen und Krankensalbungen).
Es gilt, das therapeutische Potential klassischer Seelsorgeansätze zu entdecken und weiterzuentwickeln (Ordensspiritualität, M. Luther, Pietismus, H. Nouwen, G. May, D. Benner, M. Josuttis).
Liturgische Elemente und rituelle Handlungen wirken dann therapeutisch, wenn sie nicht therapeutisch funktionalisiert werden. Glaube darf nicht als Therapeutikum missverstanden werden.
Christliche Spiritualität wirkt sich wegen ihrer programmatischen "Umgestaltung des inneren Menschen" (Römer 12) therapeutisch aus. Sie bleibt aber zeichenhaft und fragmentarisch und steht in dem größeren Zusammenhang eines zukünftigen Heils.
Eine systematisch-theologisch fundierte Seelsorge ist in ihren grundlegenden Zielen therapeutisch angelegt: Gottesbegegnung, Befreiung, Orientierung, Gemeinschaft.
Der glaubende Mensch erfährt sich von Gott geliebt und angenommen. Dieses Wissen und die Erwartung einer Gemeinschaft mit Gott über den Tod hinaus schaffen Lebenssicherheit.
Christliche Spiritualität drückt sich in einem gemeinschaftlich gelebten Glauben aus. Seelsorgerlich orientierte Ortsgemeinden enthalten Potentiale einer heilsamen Gruppe.
Neue Impulse für eine therapeutische Spiritualität erwachsen aus der Zusammenschau klassischer Seelsorgetraditionen und psychotherapeutischer Einsichten, was beispielsweise die Rezeption der altkirchlichen Seelsorge ("Wüstenväter") belegt (Seitz 1996, Bäumer/Plattig 1998, Hell 2001, Bohren 2001).
VI. Konsequenzen für das Profil einer geistlichen Begleitung Vor dem Horizont des ökumenischen und interkulturellen Zusammenwachsens ist der Bedarf nach einer Profilierung der christlichen Spiritualität gewachsen. In diesem Prozess ist die persönliche Standortbestimmung wichtig. Eine noch zu entfaltende systematische Theologie der Spiritualität berücksichtigt (a) die Vielfalt der Konfessionen und (b) die individuellen Glaubensstile (vgl. zu a) die Vorarbeiten von K. Rahner, W. Pannenberg, H.-M. Barth, J. Sudbrack, B. McGinn; zu b) J. Fowler).
Zur Vertiefung und Ausbreitung einer personalen Spiritualität sind Weiterbildungen zu konzipieren und durchzuführen. Manche schlagen eine spezifische Ausbildung zum Spiritual / zur Spiritualin vor, die dadurch zur Anleitung für die spirituelle Praxis qualifiziert werden.
Zur Entfaltung einer personalen Spiritualität und zur Entdeckung des "persönlichkeitsspezifischen Credos" können Persönlichkeitsstil und Glaubensentwicklung aufeinander bezogen werden. Geistliche Begleitung berücksichtigt sowohl die individuellen personalen Voraussetzungen als auch den Stand der Glaubensentwicklung.
Drei wichtige Elemente von Weiterbildungsgruppen in geistlicher Begleitung sind die religiöse Selbsterfahrung (Veränderungen des Gottesbildes, Integration der religiösen Sozialisation, Moralentwicklung, Leiblichkeit und Spiritualität, Glaube und Zweifel), Grundkenntnisse der spirituellen Theologie sowie die Einübung einer Meditationsform.
Drei Aufgaben einer geistlichen Begleiterin / eines Spirituals: 1) Elementarisierung der christlichen Spiritualität, 2) persönliche biographische Integration von Lebens- und Glaubensgeschichte und 3) psychotherapeutisch-diagnostische Kompetenz und didaktisch-pädagogisches Geschick, um zur Vertiefung der Gottesbeziehung anzuleiten.
Das Thesenpapier wurde anlässlich eines Referates von Dr. Michael Utsch vor dem Kuratorium der EZW am 13.09.02 angefertigt und ausgeteilt.
Korrespondenz:
Prof. Dr. Michael Utsch, Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Auguststraße 80, 10117 Berlin, Telefon: 030 / 283 95-211; mail: utsch@ezw-berlin.de
|